Wir brauchen ein neues „Wir“-Gefühl

Ein Beitrag zum Tag der Deutschen Einheit 2018.

Berlin feiert in diesen Tagen 28 Jahre deutsche Wiedervereinigung.
Blicke ich zurück auf meine eigene Biographie, dann sind das 14 Jahre West-Berlinerin eingemauert in einer Stadt, in der es keine spontane Fahrt ins Grüne gab. Dafür aber Wohnungsnot, Smog in den Wintermonaten, Grenzkontrollen und tote U-Bahnhöfe. Das war das erste Drittel meines Lebens als Ur-Berlinerin und Kreuzbergerin.

Die folgenden 28 Jahre sind wiederum gekennzeichnet vom Wandel in Berlin. Beginnend damit, dass sich Niemand für meine pubertären Eskapaden interessierte, weil die ganze Stadt nur über Begrüßungsgeld, Beate Uhse, überfüllte U-Bahnen und leere Supermärkte sprach. Über eine Transformation innerhalb von wenigen Monaten, die die eine Seite überforderte und die andere überrollte. Die Biographien zerstörte und gleichzeitig so viele neue Chancen auftat, dass Subkulturen entstanden und Scharlatane ihr Unwesen treiben konnten. Kurz: Berlin war und ist seit fast 30 Jahren im Wandel und steht wie keine andere Stadt für ihre schmerzhaften und gleichzeitig faszinierenden Brüche. Berlin war und ist ein Sehnsuchtsort für Menschen, die sich auf vielfältigste Art verwirklichen wollen. Aber gerade die Jahre nach der Wende boten Freiräume, die viele Kieze auf den Kopf stellten und ein neues Berlin entstand. Mitte wurde zum Zentrum der Clubkultur, der Prenzlauer Berg zum nationalen Symbol für Gentrifizierung. Das ehemals hippe Charlottenburg litt unter dem Aufmerksamkeitsdefizit und ehemalige Bezirke in Randlage wie Treptow, Neukölln oder der Wedding wurden urplötzlich zur Innenstadt. Brüche und Umbrüche, Bezirksfusion und Sparen bis es quitscht haben unser aller Leben in den letzten Jahren geprägt.

Aber knapp 30 nach dem Fall der Berliner Mauer stehen wir heute erstmals an einem Punkt, an dem es nicht mehr Ost und West Berlin gibt. Berlin ist heute eine wachsende Stadt, die in die Zukunft investiert. Aber sie ist nicht mehr geteilt.
Wo einst Menschen auf der Flucht in der Spree ertranken fährt heute die U1 über die Oberbaumbrücke. Die jüngeren und zugezogenen Menschen wissen gar nicht mehr so genau, wo die Mauer überhaupt stand und zentrale Orte wie der Hackesche Markt, der Breitscheit Platz oder der Alex sind so stark verändert, dass sie nicht mehr für das alte, sondern für das neue Berlin stehen. Doch schaut man auf unser Land, dann gibt es bis heute große soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten. Die Aufgabe Ost und West zu verbinden, ist nicht erledigt. Statt blühender Landschaften gibt es strukturschwache Regionen. Wo der Staat sich zunehmend aus der Verantwortung zieht und damit das Rückgrat unserer Demokratie schwächt: Funktionierende Kommunen mit Bibliotheken, Schwimmbädern, Grünflächen, Schulen und Kitas. Ein Staat muss sich um Bürger*innen kümmern. Im Osten gibt es aber noch immer weniger Rente, Lohn und Sozialleistungen als im Westen. Das sind Gräben, die wir füllen müssen, damit wirklich zusammenwächst, was zusammen gehört.

Wir brauchen ein neues „Wir“-Gefühl. Nur mit euch und nur miteinander, das muss unsere Lösung sein. Das gilt für Ost und West genauso wie für Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Berlin ist die Stadt dafür. Eine Stadt, die heute durch ihre Offenheit und Toleranz die ganze Welt fasziniert. Auch dieses Jahr erinnert uns der 3. Oktober an eine Zeit, in der Demokratie und Freiheit keine Selbstverständlichkeit waren, sondern bloß ein weit entfernter Traum. ‚Einigkeit‘ bedeutet für mich nicht, dass wir alle einer Meinung sein müssen. Es bedeutet nicht, dass wir alle die gleichen Vorstellungen und Ideen von der Zukunft teilen. Das politische Berlin lebt von Meinungsvielfalt und einer regen Streitkultur. Die Menschen haben sich schon immer eingemischt, gemotzt, gemeckert und demonstriert. Das ist Berlin und auf dieses Engagement sind wir stolz. Vor 28 Jahren haben tausende Menschen friedlich auf den Straßen für ihre Bürger*innenrechte protestiert. Meine Freiheit, unser aller Freiheit haben wir ihnen zu verdanken. Ihre Proteste und Errungenschaften haben meine Stadt entscheidend geprägt und prägen sie bis heute.

Aber auch hier sind immer mehr Menschen frustriert. Gewalt und Hetze gewinnen an Raum und Zuspruch. Deshalb ist es heute wichtiger denn je Stellung zu beziehen und mit einer klaren Haltung am 13.10.2018 auf die Straße zu gehen, um ein Zeichen für unsere Demokratie und gegen die Teilung der Gesellschaft zu setzen. So wie die friedlichen Revolutionäre vor 28 Jahren. Wir radikalen Demokrat*innen können zusammen Mauern einreißen – damals die aus Beton. Heute, die in den Köpfen.